Leitartikel Totenstille in Putins Reich

Putins Machtbasis ist unter anderem die Propaganda.
Putins Machtbasis ist unter anderem die Propaganda.

Russland ist ein Land in Angst. Und das seit Jahrhunderten. Fehlende demokratische Traditionen kombiniert mit einem System gegenseitiger Denunziation.

In Russland ist es still, totenstill. Man hat den Eindruck, die Menschen in dem mit mehr als 17 Millionen Quadratkilometern größten Land der Erde duckten sich alle weg. Als ob 144,7 Millionen Russen tagtäglich bemüht seien, nur nicht aufzufallen. Denn nach einem kurzen Aufflackern des mutigen Protests einer kleinen Gruppe nach dem Tod des Regimekritikers Alexej Nawalny scheint alles wieder beim Alten zu sein. Putin sagt, wo es lang geht, und alle folgen.

Ehrlich gesagt, wissen wir hier im Westen auch nicht viel. Unabhängige Meinungsforschung gibt es im Prinzip kaum noch in Russland. Die wenigen im Land verbliebenen Korrespondenten westlicher Medien haben einen Maulkorb verpasst bekommen und stehen mit einem, manchmal auch mit beiden Beinen im Gefängnis. Und die ins Ausland geflohenen Regimekritiker können auch nur schwer erklären, warum sich nicht mehr ihrer Landsleute wehren, beziehungsweise gewehrt haben, bevor es zu spät war.

Fehlende demokratische Traditionen

Ein Erklärungsansatz sind die fehlenden demokratischen Traditionen. Angefangen im Zarenreich, damals eines der repressivsten Systeme in Europa, über Stalins blutige Terrorherrschaft bis hin zu der Altmännerriege im Zentralkomitee der KPdSU, die bis Gorbatschow die Geschicke der Sowjetunion bestimmte – von Freiheit und Demokratie war da nie etwas zu spüren. Im Gegenteil.

Über Jahrhunderte, haben die Russen verinnerlicht, dass es besser ist, nicht aufzufallen. Und dass Bespitzelung und Denunziation allgegenwärtig sind. Dann kam Gorbatschow. Und mit ihm ein Funken Hoffnung, eine Öffnung zur Welt. Wer in den frühen 1990er Jahren Russland bereiste, der erlebte in der Regel sehr arme, aber gastfreundliche, offene und neugierige Menschen.

Doch die politische Öffnung ist Vergangenheit. Wladimir Putin – Ex-Geheimdienstmann, cleverer Stratege und skrupelloser Machtmensch – ist es gelungen, Russland Schritt für Schritt in ein autokratisches, ganz auf ihn zugeschnittenes System zu überführen. Ihm half, dass die Phase der Öffnung nach außen begleitet war von wirtschaftlichem Niedergang und vom Zerfall der alten Sowjetunion – der Supermacht, die sich im Kalten Krieg Jahrzehnte gegen die USA behauptet hatte, der Föderation, in der die Russen immer das Sagen hatten und sich wohl auch als etwas Besseres fühlten.

Die „Brudervölker“ machen sich davon

Nach 1991 verließen die „Brudervölker“ die Union, machten ihr eigenes Ding. Die einstigen Satellitenstaaten emanzipierten sich. Sie entschieden sich mehrheitlich, der EU und sogar der Nato beizutreten. Das schmerzte – und schmerzt wohl heute noch.

Putin verstand es, dieses Gefühl des Bedeutungsverlusts zu koppeln mit der Angst vor dem „bösen Westen“, der nur darauf lauert, Russland zu überfallen. Diese Erzählung hat er im Lauf der Jahre ausgebaut und verfeinert. Vermutlich glauben ihm das die meisten Russen auch. Denn Russland hat ja durchaus die Erfahrung machen müssen, dass fremde Truppen quasi vor der Haustüre standen, zum Beispiel Amerikaner und Japaner im Bürgerkrieg (1917-1922) oder die Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Je abgelegener die Gegend, umso fruchtbarer ist der Boden für Putins Propaganda. Und Ortschaften weit weg von allem gibt es in dem Riesenreich mehr als genug. Dort ist es seit jeher wichtiger, zu überleben und sich ein wenig Wohlstand zu erarbeiten, als Freiheitsfantasien nachzuhängen. Kritik an Putin wird hier als Angriff auf das geliebte „Mütterchen Russland“ und den hart erarbeiteten, wenn auch niedrigen Lebensstandard gewertet. So lange es Putin also gelingt, trotz Sanktionen und Kriegswirtschaft diesen Menschen ihr bisschen Wohlstand zu erhalten, ist seine Machtbasis wohl nicht in Gefahr.

x